Durch das weit offen stehende Fenster schaute Joni auf das Land hinter dem Haus. Der Mond war aufgegangen, von hier jedoch nicht zu sehen. Aber jenseits des Schattens, welchen das flache Gebäude warf, lag sein silbriges Licht auf allen Dingen. Direkt unter dem Fenster führte ein Weg an der Hauswand entlang bis zum ehemaligen Gemüsegarten und weiter zum Fluss hinunter, wo seine Mutter immer die Kleider und das Bettzeug wusch. Jenseits des Weges sah Joni den Schweinepferch. Das Gatter stand weit offen, ein paar der klobigen Bretter der Einfriedung waren herausgebrochen, und der morastige Boden, in dem sich die Borstentiere so gerne suhlten, längst eingetrocknet und von langen Rissen durchzogen. Und dahinter lag sie, seine Wiese und wartete.Seit vier Jahren wartete sie, dass er wieder zu ihr kam. So lange lebte er in der Stadt bei seinem ungeliebten Onkel. Und fast drei Jahre waren nun vergangen, seit seine Eltern von einer unheimlichen Seuche dahingerafft wurden. Und mit ihnen alle anderen, die hier im Dorfe lebten. Sein Onkel hatte ihm diese schlimme Nachricht lange vorenthalten. Erst im vorigen Jahr, einen Tag vor seinem fünfzehnten Geburtstag, erfuhr Joni, dass er ein Waisenknabe war - ohne Eltern, ohne Heimat. Er wollte unbedingt in sein Dorf zurück, jedoch sein Onkel - eigentlich kein böser, aber ein sehr strenger Mann - verlangte, dass er zuerst die Schule fertig machen musste. Alles Betteln half nichts."Du willst doch nicht dein ganzes Leben Schweine mästen und Korn anbauen, wie mein Bruder, dein Vater? Mach die Schule, dann kannst du bei mir als Gehilfe anfangen. Wie oft hab ich dir schon gesagt, dass dies alles mal dein sein wird. Also reiß dich zusammen. Nach der Schule fahren wir hin und schauen uns die Sache an. Ich muss sowieso euren Hof verkaufen. Wird schwer genug sein, denn bisher traut sich kaum einer in diese Gegend zurück."So hatte der Onkel immer gesagt, wenn Joni ihn bat, heimgehen zu dürfen. Und weil er ein artiger Junge war und den Zorn des Onkels nicht ohne Grund fürchtete, schloss er die Schule mit gutem Erfolg ab.Heute, am späten Nachmittag, waren sie aus der neunzehn Meilen entfernten Stadt Helwald angekommen. Der Onkel hielt in der Tat sein Wort. Nur er und Joni hatten die beschwerliche Reise durch den Knüppelwald auf der schlechten Straße unternommen. Joni wäre nur allzu gern geritten, aber Onkel Winburg bestand darauf, den zweispännigen Wagen zu nehmen. Natürlich, so mutmaßte der Knabe, um ein paar Dinge aus seinem Elternhaus fortzuschaffen. Der Onkel war ein reicher Kaufmann - und ein guter Teil seines Reichtums rührte nicht nur von seinem Talent her, ein gutes Geschäft zehn Meilen gegen den Wind zu wittern. Die Leute in der Gegend munkelten, sein immenser Geiz trage mindestens genauso viel dazu bei. Die Straße durch den Wald war schlecht, überhaupt die letzten Meilen, seit dieses Stück schon fast drei Jahre nicht mehr benutzt und ausgebessert wurde. Joni taten alle Knochen im Leibe weh, als er vom Kutschbock sprang. Onkel Winburg hingegen schien bester Laune zu sein. Er stand in der breiten Hofeinfahrt und blickte sich um."Joni, ich sag dir was. Man könnte einen guten Preis bekommen für so ein schönes Anwesen, wenn ..."Er ließ den Satz unvollendet und seufzte schwer. Joni sprach ihn in Gedanken fertig:"... wenn endlich die Leute ihre Angst vor der Seuche ablegten und herkämen, um all die leerstehenden Höfe und Häuser zu kaufen."Ob ihm der Onkel wohl etwas von dem Gewinn abgeben würde? Kaum, und er würde ihm seinen Anteil mit dem Hinweis verweigern, dass er dereinst ohnehin alles erbte. Das zumindest stand mit großer Sicherheit zu erwarten. Denn der Onkel Winburg und Tante Delma hatten keine Kinder. Und wenn das Schicksal nicht ganz verrückt spielte, mochte das auch so bleiben. Der Onkel war über sechzig. Tante Delma nur zwei Jahre jünger. Sie liebte Joni wie ihr eigenes Kind, und sie war es auch, die ihm manchmal ein kleines Silberstück zusteckte. Heimlich, wie man sich denken kann. Wie gesagt, Onkel Winburg war kein schlechter Mann, aber einen Jüngling zu verwöhnen, das sprach gegen das, was er unter Erziehung verstand. Irgendwann mal würde es ihm Joni schonend beibringen müssen. Bauer zu sein, das reizte ihn ja wirklich nicht. Aber er wollte auch kein Kaufmann werden wie der Onkel. Lesen und schreiben zu können, das schätzte er schon, doch was damit anfangen?Er trat vom Fenster zurück und seine tastenden Hände suchten und fanden das Bett. Rasch zog er sich aus und legte sich hin. Wie gut tat es doch, endlich wieder in seinem Zimmer zu sein und in seinem alten Bett zu liegen. Ein wenig klein war es ihm geworden und seine nackten Füße schauten unter der Bettdecke hervor und ragten ein Stückchen über den Rand der Matratze hinaus. Mit einem zufriedenen Lächeln um den Mund schlief er ein. Morgen würde er seine kleinen Freunde wiedersehen.Der Onkel weckte ihn kurz nachdem die Sonne aufging."Geh zum Wagen und hol uns was Anständiges zu essen!", rief er ihm durch die Türe zu. Während Joni sich anzog, hörte er, wie im Haus Schubladen auf- und zugezogen und schwere Möbel verschoben wurden. Onkel Winburg machte Bestandsaufnahme, wie er so was zu nennen pflegte. Der Junge schlüpfte in die Schuhe und - einer spontanen Erinnerung aus seiner Kindheit folgend - kletterte er durch das Fenster ins Freie. Rasch lief er hinab zum Fluss und wusch sich. Das Wasser war kalt, zu kalt für die Jahreszeit. Als Kind hatten er und seine Freunde oft hier gebadet. Heute kam es ihm zu frisch dafür vor."Wo bleibt das Essen?", klang es ungeduldig aus dem Haus. Joni lief zurück, schlüpfte durch die schief in den Angeln hängende hintere Pforte in den Hof. Er überquerte ihn und trat durch die Einfahrt auf die staubige Straße. Der Wagen stand noch immer vor dem Haus. Nur die Pferde hatten sie gestern schon auf eine Weide in der Nachbarschaft gebracht, wo der Zaun noch halbwegs vertrauenswürdig ausschaute. Joni wuchtete einen schweren Beutel von der Ladefläche und schleppte ihn ins Haus."Hier kommt das Frühstück, Onkel.", sagte er und begann, in dem Sack zu wühlen. Er holte Schinken, Brot, harten, rötlichen Käse und einige Äpfel hervor und legte sie auf den Tisch."Pass doch auf", schimpfte der Onkel, "du bringst mir noch die Papiere durcheinander!"Auf der Tischplatte lagen einige Dokumente ausgebreitet. Winburg nahm sie rasch an sich und trug sie hinüber zu einer Kommode, wo er sie in einer Lade verstaute. Überall auf dem Fußboden lagen Dinge herum, die seinen Eltern gehörten. Kleidungstücke, arg von den Motten zerfressen sah Joni zwischen verstaubten Büchern, allerlei Kleinkram und Geschirr. Sein Onkel war schon dabei, das Brauchbare von dem zu trennen, das in den Jahren Schaden davon getragen hatte."Wie ein Plünderer.", dachte Joni und fühlte ein wenig Ärger in sich aufsteigen.
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