Der Schulbus kam wegen seines Einstiegs für Anne nicht in Frage. Also fuhren sie mit der Bahn. Der Weg wurde dadurch etwas weiter, aber das machte Julia nichts aus. Im Gegenteil. Für Anne würde sie alles tun.Als Julia mit Anne den Schulhof betrat, lösten sich sofort ein paar Mädchen aus einer Gruppe, und steuerten auf sie zu. Die Mädchen begrüßten Julia fröhlich mit einer Umarmung und einem Küsschen auf die Wange. Das war hier unter den Mitschülerinnen so üblich. Anne fand es als positives Zeichen."Du bist also Anne", sagte das eine Mädchen freundlich zu ihr. Herzlich willkommen in unserer Gruppe. Ach übrigens, ich bin Stephanie. Aber du kannst mich Steffi nennen." Die anderen Mädchen stellten sich Anne auf die gleiche Weise vor."Das fängt ja super an", dachte sich Anne, als auch schon der Schulgong ertönte, und die Schüler in ihre Klassen rief.Der Klassenlehrer stellte Anne den anderen Mitschülern vor, und erklärte in kurzen Sätzen die Sachlage. Dann wies er ihr einen Platz neben Julia zu.Anne war überrascht. Sie wurde von jedem sofort akzeptiert. Keiner mokierte sich über ihren Rollstuhl. Und keiner stellte ihr neugierige Fragen. Weshalb und wieso.Der Lehrstoff an der neuen Schule war ein ganz anderer als in ihrer alten Schule. Aber damit hatte sie schon gerechnet. Es dauerte zwei drei Tage, dann hatte sie sich hinein gearbeitet. Die Lehrer hatten ihre Freude mit ihr.Anne war eine sehr aufmerksame und fleißige Schülerin. Die neue Schule gefiel ihr. Am liebsten wäre sie für immer hier geblieben. Aber das war ja nun leider nicht möglich. Spätestens wenn ihre Tante wieder vollkommen gesund war, würde sie wieder zurückgehen. Doch so wie es im Moment aussah, dauerte das noch eine Weile.Der Gesundheitszustand von Annes Tante hatte sich verschlechtert. Die behandelnden Ärzte sprachen sogar von einer Überstellung in eine Rehabilitationsklinik. Das würde einige Wochen dauern. Julias Eltern waren mit Annes Tante und ihren Ärzten in ständiger Verbindung. So waren sie immer über alles informiert. Auch Anne telefonierte regelmäßig mit ihrer Tante und versicherte ihr, dass es ihr gut ginge und sie sich keine Sorgen machen müsste. Sie erzählte auch von der neuen Schule, von den Mitschülern die alle so nett zu ihr waren, und dass sie sich bei Julias Eltern sehr wohl fühlte. Die Zeit verging wie im Flug. Zwei Wochen war sie nun in der neuen Schule und hatte sich schon voll eingelebt. Sie dachte nur noch selten an die kleine Dorfschule und ihre Mitschüler.Ihr neues Zuhause, auch wenn es nur vorübergehend war, gefiel ihr. Anne hatte nie das Gefühl nur zu Besuch da zu sein. Nein. Es war, als hätte sie schon immer hier gelebt.Die zwei Wochen Osterferien waren für Anne ein Traum. Jeden Tag schlafen solange sie wollte, mit Julia gemütlich frühstücken, und dann in die Innenstadt zum bummeln. Hin und wieder traf man sich mit ein paar Mädchen aus der Klasse zum Eis essen oder einfach nur um im Stadtpark zu sitzen und sich unterhalten. Anne hatte sich in kürzester Zeit total verändert. Sie war auf dem besten Wege ein Stadtkind zu werden. Für sie war das ein großer Vorteil. Auf diese Weise wurde ihr Selbstbewusstsein gestärkt, und sie konnte sich in Selbstständigkeit üben. Inzwischen hatte sie auch gelernt, ihren Rollstuhl den sie über alles hasste, anzunehmen. Er gehörte einfach zu ihr.Annes Veränderung, war eine Folge des neuen Umfeldes in dem sie sich bewegte. Und obwohl Julia und Anne Tag und Nacht zusammen waren, verstanden sie sich so gut wie seit dem ersten Tag. Jede von ihnen war froh darüber, dass es die Andere gab. Ebenso erging es Julias Eltern. Sie hatten schon längst bemerkt, dass der Umgang mit Anne ihrer Tochter gut tat. Inzwischen waren einige Wochen vergangen. Anne hatte sich zu einer Musterschülerin entwickelt. Ihre Tante sollte bald entlassen werden. Die Ärzte und Therapeuten hatten ihr Bestes gegeben, aber sie würde nie mehr ganz gesund werden. In Zukunft könne sie sich nur noch mit einer Gehhilfe fortbewegen. Außerdem würde sie eine Haushaltshilfe benötigen.Nun war guter Rat teuer. Was sollte mit Anne geschehen? Sie konnte nicht ewig bei Julias Eltern bleiben. Der Gedanke, dass sie in Zukunft das Mädchen nicht mehr versorgen könne, und Anne ihr deshalb weggenommen würde, brachte Martha fast um den Verstand. Der Sturz kreiste und kreiste in ihrem Kopf. Sie stellte sich immer wieder dieselbe Frage. "Warum bin ich damals nicht im Haus geblieben? Warum musste ich so unglücklich stürzen?" Aber sie fand keine Antwort. Sie wusste nur eines mit Sicherheit. Wenn Anne in ein Waisenhaus käme, dann wäre es alleine ihre Schuld. Mit dieser Schuld würde sie nicht leben können. Doch einen kleinen Hoffnungsschimmer hatte sie noch.Wenige Tage nach Marthas Heimkehr, rief sie bei Julias Eltern an und bat um ein Gespräch. Es sollte aber vorerst ohne Anne stattfinden. Sie einigten sich auf das kommende Wochenende.Da in Julias Familie der Vorsatz galt immer über Alles zu sprechen, wurde Anne natürlich zumindest für die Zeit in der sie bei ihnen lebte, mit einbezogen. Julias Eltern wussten wie es wirklich um Marthas Gesundheit stand. Von daher konnten sie sich vorstellen, dass es bei diesem Gespräch um Annes Zukunft ging. So beschlossen sie, sich alles was Martha zu sagen hatte in Ruhe anzuhören, aber dann Anne in das Gespräch mit einzubeziehen. Man kam überein, dass Julias Eltern schon sehr früh am Morgen fahren würden. Die Mädchen sollten erst einmal ausschlafen, dann mit dem Zug nachkommen. Martha sah nicht gut aus. Sie war stark abgemagert, und das Gehen fiel ihr trotz Gehhilfe ausgesprochen schwer."Danke", sagte sie, "dass sie so schnell gekommen sind." "Was ist denn los Martha? Geht es um Anne", fragte Julias Vater teilnahmsvoll."Ich weiß nicht wie es weitergehen soll. Ich bin nicht mehr in der Lage mich um das Kind zu kümmern." Zusammen gesunken saß sie auf dem Stuhl. Dann fuhr sie fort:"Damals, nach dem schrecklichen Unfall habe ich das Sorgerecht und damit die Verantwortung für Anne übernommen. Ich konnte doch nicht zulassen, dass das arme Kind in ein Waisenhaus kommt. Und jetzt kann ich meine Verpflichtung nicht mehr erfüllen. Wenn das Jugendamt davon erfährt, werden sie mir Anne wegnehmen. Bitte helfen sie uns." Martha hatte die Hände vors Gesicht geschlagen und weinte bitterlich. Julias Mutter versuchte sie zu beruhigen und legte die Hand auf ihre Schulter."Bitte Martha. Sie dürfen sich nicht so aufregen. Das schadet ihnen doch nur. Aber was meinen sie damit, wir sollen ihnen helfen?" Martha sah sie hoffnungsvoll an.
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