Vor An’Jantara erhebt sich der Nachtwald, dunkel und furchterregend. Die knorrigen uralten Bäume ragen bis in den Himmel und kitzeln die tief hängenden grauen Wolken. Sie fühlt sich verloren und einsam, legt ihren Kopf tief in den Nacken, um bis nach oben zu den Wipfeln schauen zu können. Ihre Mütze fällt dabei vom dunkelhaarigen Wuschelkopf. Die Locken ringeln sich bis zur Schulter. An’Jantara stöhnt. Tagelang ist sie bis hierher gelaufen. Ihre Füße schmerzen. Zu Hause in Grünland nennt man diesen Wald auch Dunkelwald oder Nebelwald. Wilde Gerüchte und Mythen ranken sich um diesen Ort. An’Jantara ist sich nicht sicher, was sie von diesen Erzählungen halten soll: "Kann wirklich niemand diesen Nachtwald wieder verlassen, wenn man einmal seine Grenze überschritten hat?" Der Wirt in der letzten Schenke raunte hinter vorgehaltener Hand ihr zu: "Nebelgeister gibt es dort, Trolle, Ungeheuer. Die Düsternis herrscht an diesem geheimnisvollen Ort." Es kribbelt leicht in An’Jantaras Bauch, die Angst erwachte langsam in ihr, kroch empor und nistete sich in ihrem Hirn ein. Sie verbannte alle Worte in den hintersten Winkel ihrer Gedanken. Sie muss hinein. Nur hier wächst die BLAUE BLUME. "Die blaue Blume", An’Jantara murmelt leise die Worte. - Als in ihrem Dorf diese rätselhafte Krankheit ausbrach, die langsam nach und nach alle Bewohner in Lethargie versetzte, in einen schlafähnlichen Zustand, holte die Heilerin ihr magisches Buch hervor. Fieberhaft blätterte sie voller Verzweiflung Seite für Seite durch, bis sie endlich auf die Legende von der blauen Blume stieß, die in der Düsternis des Nachtwaldes, bewacht von Geistern, wachsen soll. Nur diese Blüte, flüsterte das Zauberbuch, kann die rätselhafte Krankheit bannen und nur eine Jungfrau mit reinem Herzen kann sie pflücken. An’Jantara, die vierzehnjährige knabenhaft anmutende Tochter der Heilerin, stellte sich wagemutig dieser Aufgabe und zog aus, Grünland zu retten. - Erschöpft streift sie ihren wolligen braunen Umhang ab, legt ihn auf die Wiese. "Ich muss mich kurz ausruhen und Kräfte sammeln." Ihr zartes Gesicht ist von den Strapazen des Weges gezeichnet, ihre dunklen Augen blicken müde. Sie rückt ihr grünes, einfach geschnittenes Kleid zurecht, streicht mit einer leichten, flüchtigen Handbewegung ihre Locken aus der Stirn und lässt sich für einige Minuten auf ihren Umhang fallen. "Ich muss es wagen, muss mich meiner Ängste stellen, das Dorf ist ohne mich verloren", geht ihr durch den Kopf, "Es kann doch nicht so schwer sein, diesen Nachtwald zu bezwingen", ermuntert sie sich selbst. An’Jantara gibt sich einen Ruck, steht auf. Mit einer trotzigen Jetzt-erst-Recht-Handbewegung wirft sie sich ihren Umhang über und läuft mutig in den Wald hinein.Vor ihr windet sich ein schmaler Pfad durch dunkle Büsche und hohe Bäume. Langsam und vorsichtig setzt sie Fuß vor Fuß. Ihre Schritte werden vom dicken Belag der Moose verschluckt. Sie hat das Gefühl, als ob die Bäume auf sie zu rücken, sie einschließen wollen. Die Luft riecht modrig und abgestanden. Wurzeln queren den Weg, Schlangen vortäuschend, bäumen sich an anderen Stellen auf. Steine, wie von mächtiger Hand zum Spiel benutzt, liegen überall herum. An’Jantara überklettert sie mühsam, stolpert über die Wurzeln, fängt sich wieder. Im Dämmerlicht sieht sie Käfer krabbeln, groß, schwarz und hässlich. Da und dort knackt es. Seltsame Geräusche und Töne dringen an An’Jantaras Ohr. Sie kann sie nicht deuten. Schatten huschen durch’s Unterholz, umspielen sie, etwas Unbegreifliches scheint nach ihr zu greifen, sie zu berühren. Entsetzen bemächtigt sich ihrer, lässt den Puls rasen, lässt sie heftig und stoßweise atmen.
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